Habt ihr bei euch schon eine dichterische Ader entdeckt? Ich wusste jedenfalls nichts davon. Eine Schreibnacht sollte mich des Besseren belehren - jeder kann dichterisch werden! Wir schrieben zunächst ohne Pause einfach darauf los - für jemand mit wissenschaftlicher Prägung durchaus ungewöhnlich! Und dann ging es ins Feld: die U-Bahn. Aus Beobachtungen, Notizen und Stimmungen konnte dann etwas Schönes entstehen:
Metropolit(r)ain*
© Zuzana Kobesova
Ich bin ein Wagon, mich bewohnen Geräusche. Motor, Reibung, Klima, Durchsagen, Bremsen und Menschen. Geräusche erzählen über den Tag und über mich. Ohne Geräusche bin ich kein ich. Jeden Tag werde ich anders. Und das Andere wird auch anders.
Am Abend erwachen die Menschen, pulsieren und übertönen die Geräusche der Technik. Sie behaupten sich, erobern mein Inneres. Manche erobern es mit Stille, Starre, manche mit regem Gesprächsrauschen. Ich höre zu und höre, wo sie waren, wohin sie gehen und was danach noch passiert.
Manche erobern mich mit magischer Stille, die am Stecker der Kopfhörer beginnt. In die Ohrmuschel eingesteckt, vielleicht noch die Passung mit Brille prüfen und es kann losgehen mit der Handystarre. Dies Menschen tarnen sich als mein Inventar für die kurze Zeit der Fahrt. Sie breiten sich mit Jacken, Taschen, kleinen und großen Koffern auf Sitzen aus: 'Halte Distanz zu mir. Auch du, Durchsage, störe meine Wellen nicht!' Für manche sind Kopfhörer und Handy das Herz des Lebens und das Fenster in die Welt - eCard, Personalausweis beherbergt die Handyhülle, Freunde, Kontakte, Erinnerungen das Handy selbst. Manche passen sich durch Starre der Umgebung an, manche simulieren die Naturgesetze und reagieren auf jede kleine Beschleunigung, Bremsung - wie Bäume im Wind, wie Korallen am Riff. Steigen sie aus, wachen sie auf und werden lebendig. Sie sind wieder frei.
Andere erfüllen mich mit allem, was mich nicht ausmacht. Sie tun alles, was ich nicht kann und auch das, was ich nicht möchte, dass man tut. Nun, diese Eroberer sind Entdecker. Nein, keine Entdecker, sie sind Erfinder. Sie erfinden mich als Lebensraum. Sie ignorieren meine Unfähigkeiten und quatschen unentwegt. Sie sprechen über Handy, nicht mit dem Handy. Sie finden Kopfhörer langweilig, diskutieren Handyeinstellungen, Fotos, was wo zu sehen, zu finden und zu tun ist - kurz: sie verhandeln das Leben. Mit ihnen atme ich bewusst durch meine Fenster - jedes Mal ein Lebensvollzug. Das Grundrauschen wird belanglos und meine Erfinder erfinden auch andere Erfinder. Fremde Menschen sprechen plötzlich miteinander - und das ohne jedes verbindende Kabel oder Übertragungssignal des Handys. Kurze Begegnungen versprühen Freundlichkeit, erhellen meine Wände, obwohl es längst schon dunkel geworden ist. Nur bis es "Endstation" heißt. Da legt sich eigentümliche Nervosität über den Raum, ein Nebel aus rastloser Ruhe vorm baldigen Aussteigen-Müssen erfasst die Menschen. Aus ist es für heute. Ein Mann starrt mich durch die Anzeigetafel an - große wässrige Augen schauen mich für einen ewigen Augenblick ratlos an. "Bitte aussteigen, Endstation. Auf Wiedersehen." Ja, so verabschiede ich mich, unerkannt und doch omnipräsent mit der Stimme der Durchsage.
[*] „Mutterstadt“-Metro abgeleitet von: französisch métro, Kurzform von (chemin de fer) métropolitain= Stadtbahn und lateinisch metropolis < griechisch mētrópolis, eigentlich = Mutterstadt. Kurz gesagt: Ein Hoch auf Wiener U-Bahnen und das Verkehrsleben! Erstellungsdatum: 22.03.2019.